Zur Reform der Musterweiterbildungsordnung

Nervenarzt 2000. 71:763-766, Springer-Verlag 2000
Redaktion: P. Hoff, Aachen, H. Saß, Aachen

H. Saß, Aachen

Schwerpunkt "Forensische Psychiatrie"

Im Jahre 1997 hatte die Sektion "Forensische Psychiatrie" der DGPPN einen Entwurf zur Änderung der Musterweiterbildungsordnung (1) vorgelegt, der inzwischen mehrfach überarbeitet und dabei auch mit dem BVDN abgestimmt wurde.
Bei den Bestrebungen unserer Gesellschaft, den 1992 geschaffenen "Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie" gemäß der wissenschaftlichen und fachlichen Entwicklung weiter zu differenzieren, hat die Einrichtung des Schwerpunktes "Forensische Psychiatrie" eine gewisse Vorreiterfunktion erhalten.
Hierüber besteht Einigkeit auch mit der Weiterbildungskommission der Bundesärztekammer, von der die Dringlichkeit einer qualifizierten Fortbildung in diesem Bereich vorbehaltlos anerkannt wird.
Wegen des großen politischen und fachlichen Druckes auf die forensische Psychiatrie und wegen der Bedeutung der Gutachtentätigkeit für Strafverfahren, Therapie und Prognoseentscheidungen soll eine entsprechende Expertise auch nach außen mit einem Qualifikationsnachweis dokumentierbar werden.

Zur Fortführung der innerfachlichen Diskussion wird unser aktueller Entwurf für den Erwerb der Schwerpunktsbezeichnung heute erneut vorgestellt, wobei die wesentlichen Veränderungen gegenüber der früheren Version durch Kursivdruck hervorgehoben sind.
Da die Verabschiedung der Musterweiterbildungsordnung durch die Bundesärztekammer noch einige Zeit erfordern wird, hat der Vorstand der DGPPN beschlossen, schon vorab die Möglichkeit einer Qualifizierung für "Forensische Psychiatrie" durch die Fachgesellschaft zu schaffen.
Gegenwärtig wird ein Katalog von forensisch-psychiatrischen Fortbildungsveranstaltungen, Seminaren und Ausbildungseinrichtungen erstellt, die nach Anerkennung durch die DGPPN für den Erwerb der Zusatzqualifikation im Schwerpunkt "Forensische Psychiatrie" geeignet sind.
Aus diesem Grunde werden die Organisatoren entsprechender Veranstaltungen um Information gebeten, damit wir bald eine vollständige Liste von Fortbildungsmöglichkeiten vorlegen können.

Für die Übergangszeit bis zur Einrichtung des Schwerpunktes "Forensische Psychiatrie" auf der Ebene der Ärztekammern wird die DGPPN als wissenschaftliche Fachgesellschaft die Zertifizierung für die "Forensische Psychiatrie" übernehmen.
Die Inhalte sind dem hier abgedruckten Curriculum zu entnehmen, das später einmal, nach Änderung der MWBO, in den Weiterbildungskatalog für den Schwerpunkt "Forensische Psychiatrie" im Gebiet "Psychiatrie und Psychotherapie" überführt werden kann.
In Ergänzung des Entwurfes für ein Curriculum sind im folgenden auch die vorgesehenen Übergangsregelungen abgedruckt, die festlegen, wie die in der "Forensischen Psychiatrie" erfahrenen Kolleginnen und Kollegen in den Besitz der von uns vorgeschlagenen Zusatzqualifikation kommen können.



Nedopil N, Saß H (1997) Schwerpunkt 'forensische Psychiatrie' ? Nervenarzt 68:529-530


Vorschlag der DGPPN für eine Qualifizierung im Schwerpunkt Forensische Psychiatrie

Die Fortbildung im Schwerpunkt "Forensische Psychiatrie dient in Vertiefung der Inhalte der Gebietsweiterbildung, der Vermittlung, dem Erwerb und dem Nachweis spezieller Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen in der Erstellung von Gutachten und deren Vertretung vor Gericht, in der Diagnostik und Behandlung psychisch kranker und gestörter Rechtsbrecher sowie in Rechtsfragen, die den Umgang mit psychisch kranken, gestörten und behinderten Menschen betreffen.

Fortbildungszeit

Sie beträgt 3 Jahre, davon mindestens 2 nach Abschluss der Weiterbildung zum Gebietsarzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Psychiatrie bzw. Nervenheilkunde in einer Einrichtung, deren Leiter zur Fortbildung in forensischer Psychiatrie ermächtigt ist.

Inhalt und Ziel der Fortbildung

Hierzu gehören im Schwerpunkt Forensische Psychiatrie besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf folgenden Gebieten:
  • Schuldfähigkeitsbeurteilung;
  • Grundlagen der Einweisung in den Ma§szlig;regelvollzug nach den §§ 63,64 und 66 StGB (einschl.subsidiärer Maßnahmen; z.B. ambulante Therapie gem. § 35 BtmG);
  • Beurteilung der Rückfall- und Gefährlichkeitsprognose;
  • Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit, Haftfähigkeit und Vernehmungsfähigkeit;
  • Beurteilung der Reife von Heranwachsenden nach § 105 JGG;
  • Behandlung im Maßregel- und Justizvollzug
  • Fragen des Zivilrechts, des Betreuungsrechts und des Unterbringungsrechts;
  • verwaltungsrechtliche und verkehrsrechtliche Fragen.

Weiter ist zur Erlangung der Schwerpunktanerkennung Wissen aus den Nachbargebieten der Forensischen Psychiatrie nachzuweisen, namentlich aus der Kriminologie, der Rechtspsychologie, dem Prozessrecht, soweit es die Tätigkeit des Sachverständigen betrifft,aus der Rechtsmedizin und der Sexualmedizin. Besondere Bedeutung konmmt dem Wissen und der praktischen Erfahrung bezüglich der Beurteilung und Behandlung spezifischer Störungsbilder in der Forensischen Psychiatrie(z.B. aggressives Verhalten, sexuell abweichendes Verhalten, Suizidalität, Intoxikationssyndrome) zu. Spezielles Wissen ist auch zu erwerben und nachzuweisen über:
  • rechtliche Grundlagen der Beurteilung von Jugendlichen/Heranwachsenden und ihre Anwendung im Straf-, Zivil- und Sorgerecht;
  • die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und die Zeugetüchtigkeit;
  • ethische und rechtliche Fragen bei der Diagnostik und Therapie von sowie bei Forschung mit psychisch Kranken und Gestörten;
  • die theoretische und praktische Beherrschung der Prinzipien der Qualitätssicherung in der Forensischen Psychiatrie.

Fortbildungsgang

Von der Fortbildungszeit ist mindestens 1 Jahr in einer Maßregelvollzugseinrichtung oder klinisch-stationären Einrichtung im JustizvolIzug und ein halbes Jahr in einer auf Begutachtung spezialisierten Einrichtung abzuleisten.
Die praktische gutachterliche Erfahrung ist durch 70 psychiatrische Gutachten, die unter Supervision erstellt und - soweit gesetzlich vorgeschrieben - vor dem Gericht vertreten werden, zu belegen. Es entfallen 4o Gutachten auf Fragen des Strafrechts (Schuldfähigkeit und Prognose), davon müssen mindestens 5 Gutachten vor einem Schwurgericht vertreten werden und mindestens 5 Gutachten müssen sich mit der Frage der Entlassungsprognose befassen; es sind zudem 10 zivilrechtliche Gutachten und 10 sozialrechtliche Gutachten, die sich auch mit der Beantwortung von Zusammenhangsfragen befassen, sowie lo weitere Gutachten auf anderen Rechtsgebieten anzufertigen.
Fü,r den therapeutischen Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern sind Kenntnisse hierfür die rechtlichen Grundlagen, die Rahmenbedingungen und die spezifischen Therapieformen in VolIzugseinrichtungen sowie in der ambulanten Versorgung erforderlich.

Fortbildungsmöglichkeiten

Die Fortbildungsmöglichkeiten sind derzeit nur in wenigen Einrichtungen in vollem Umfang vorhanden. Sie sind aber durch die Einrichtung regionaler und überregionaler Fortbildungsseminare realisierbar. Geeignete Übergangsregelungen, die die bisherige Berufspraxis und Qualifikation berücksichtigen, sind vorgesehen.

1. Die Zertifizierung durch die DGPPN soll anhand des von der Sektion Forensische Psychiatrie erarbeiteten Vorschlags für eine Fortbildung im Schwerpunkt "Forensische Psychiatrie" erfolgen.
Die Zertifizierung durch die DGPPN soll eine Umwandlung in die Schwerpunktbezeichnung "Forensische Psychiatrie" ermöglichen, sobald ein solcher Schwerpunkt durch die Bundesärz- tekammer und die Landesärztekammern beschlossen wird.
Für Gebietsärzte, die bereits vor der Einrichtung des durch die DGPPN vorgeschlagenen Curriculums, wie es in dieser Ausgabe des "Nervenarzt" publiziert ist, über ausreichende Qualifikationen verfügen, besteht die Möglichkeit, durch Antrag bei der DGPPN im Rahmen einer Übergangsregelung einen Zertifizierungsnachweis zu erhalten.
Diese Möglichkeit endet 3 Jahre nach der Etablierung des Curriculums für die Zertifizierung in forensischer Psychiatrie von der DGPPN (wahrscheinlich Herbst 2000).
Die Übergangsregelung hat folgenden Inhalt:


2. Fur die Erteilung der Zertifizierung sind erforderlich:

a) der Nachweis einer qualifizierten Fortbildung in forensischer Psychiatrie und Psychotherapie von mindestens 120 Stunden Dauer, wobei der Besuch von mehrtägigen Veranstaltungen angerechnet werden kann.

b) Mindestens 3 Jahre fachpsychiatrische Tätigkeit als Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. für Psychiatrie oder für Nervenheilkunde oder mindestens 6 Jahre wissenschaftliche forensisch-psychiatrische Tätigkeit.


c) Mindestens 70 selbst erstellte forensisch-psychiatrische Falldarstellungen, davon mindestens 50 Gutachten aus 4 der unter A) bis F) genannten Bereiche enthalten sein müssen, der Bereich E) oder F) jedoch nicht fehlen darf.

A) Schuldfähigkeitsbeurteilung

B) Beurteilung der Voraussetzungen einer Unterbringung gem. §§ 63, 64,66 StGB

C) Beurteilung der Rückfall- und Gefährlichkeitsprognose vor Entlassung aus einer VolIzugsein- richtung

D) andere strafrechtliche Fragestellungen wie Reifebeurteilung,
Beurteilung der Haft- und Verhandlungsfahigkeit

E) Beurteilung zivilrechtlicher, betreuungsrechtlicher und unterbringungsrechtlicher Fragestellungen

F) Beurteilung sozialrechtlicher, verwaltungsrechtlicher und verkehrsrechtlicher Fragestellungen


d) Mindestens 9 Wochen praktische Fortbildung in einer Maßregelvoll- zugseinrichtung oder stationär psychiatrischen Einrichtung im JustizvolIzug, welche in höchstens 3 Zeitblöcken von mindestens 2 Wochen Dauer abgeleistet werden kann.
Es können auch 2 dokumentierte Behandlungsverläufe von psychisch kranken Rechtsbrechern unter kriminalpräventiven Aspekten als praktische Fortbildung anerkannt wer- den.
Diese Behandlungsverläufe müssen mindestens 1 jahr und mindestens 2o Stunden gedauert haben.

e) Zertifizierung.
Die Zertifizierung erfolgt durch einen Ausschuss, welcher durch den Vorstand der DGPPN eingesetzt wird.
Der Zertifizierungsausschuss benennt eine Prüfungskommission, die aus drei Mitgliedern besteht. Die Prüfungslkommission wählt aus einer Liste von 7o nachgewiesenen Falldarstellungen bzw. Gutachten (s. Punkt 2c) mindestens 5 aus und beurteilt diese.
Außerdem erfolgt eine Prüfung.